Volière Herdern, was darf ich mir darunter vorstellen?
Im nasstrüben Frühjahr 2021 wurde die Volière Herdern ins Leben gerufen, ein Verbund philantroper Misantropen, die das Leid im eigenen Körper und in der eigenen Seele spielerisch an Ihresgleichen abreagieren möchten. Ein durchaus gewagtes Unterfangen, zumal wir Spätmodernen gefangen im Korsett des Authentizitätszwangs, das Spiel fast völlig verlernt zu haben meinen.
Ein Spiel mit ungewissem Ausgang?
Frei nach Mani Matters Saalschlacht ‹Si hei d'r Willhelm Täll ufgfüehrt im Leuje z'Nottiswil› werden ganz unterschiedliche Formate gesellschaftlichen Aufeinandertreffens ausgelotet. Ob Singabend, Vortrag, Lesung, Vernissage oder Musiktheater, kein Genre ist hier zu hoch. Alles wird auf’s Neue erprobt und auf Gesellschaftstauglichkeit überprüft. Nicht nur die grosse Kunst oder Wissenschaft soll hier auf die Bühne.
Ist man ihrer womöglich etwas überdrüssig geworden? Und Bühne, wo beginnt sie und wo das Publikum? Wann oder wie wird Poesie teilbar?
Nicht billiger Charme des Mitspieltheaters ist hier das Begehren – nein, die Teilhabe des Einzelnen an der Lebendigkeit eines göttlichen Ganzen soll praktiziert werden, um Schöpfung zu imaginieren. Weiterhin sollen grosse Emotionen auf die Bretter.
Die grossen Gefühle, werden sie in Rollen dargestellt oder verkörpert?
Einige meinen, sie müssten sich nochmals schminken und verkleiden, wie dazumals, als sich das entstehende Bürgertum in rasant wachsenden Städten Europas Anfang des 18. Jahrhunderts jeden Abend im Café zum Stelldichein trafen. Andere kommen als sie selbst, welche sie zu verkörpern suchen. Nichts ist fix, alles ist möglich – solange Sie dabei die anderen nicht stören!
Wie gelingt es Ihnen in Zeiten wie diesen einen störungsfreien Ablauf der Veranstaltungen sicher zu stellen?
Die Volière Herdern verfügt über ein gut eingespieltes Security-Team, welches für die Einhaltung der Hausordnung sorgt sowie Gäste und Personal vor Unannehmlichkeiten schützt. Diese jungen Männer schreiben aber auch Gedichte und scheuen sich nicht selbst kleine Darbietungen zu machen. Sie strotzen förmlich von Ausdruckskraft.
Sie setzen also auf störungsfreie Abläufe, Ihre Anlässe hingegen kreisen um die Idee ‹Zerstörung des Selbst›. Können Sie das ein wenig ausführen?
Heute sind wir alle aufgefordert an unserem Selbst zu arbeiten, Tag für Tag und Kontrolle wird auch dabei ganz gross geschrieben. Die Märkte der Selbstoptimierung, sei es physisch, psychisch oder spirituell sind mindestens so expansiv wie jene der Konsumgüter.
Dabei ist das Konzept der Persönlichkeit im Verhältnis zur Geschichte des Menschen verschwindend jung, gerademal anderthalb Jahrhunderte ist es alt. Aus meiner Sicht wird diese Idee vollkommen überbewertet und doch dominiert sie heute unser Selbstverständnis, ja, sämtliche Kategorien unseres Zusammenlebens.
Die Volière Herdern lädt Sie herzlich ein, Ihr Selbst, an dem Sie seit Ihrer Adoleszens fieberhaft arbeiten, wenigstens für einen Abend in Luft aufzulösen.
Tatsächlich ist in der Gesellschaft eine fortschreitend kollektive Verwahrlosung zu beobachten: ein Ertrinken in Intimitäten, verloren scheint der Horizont. Seekrank taumelt der Matrose und sehnt sich nach Land um Anker zu werfen.Ist die Volière Herdern das Boot in diesem fürchterlichen Sturm?
Oh ja, diese Bild können wir getrost verwenden: Der Kahn ächzt gleitend in seiner steilen Bugwellle, ein schwindelerregendes Tempo wird möglich. Aber wohin, wohin geht die Reise? Das Ruder übernimmt mal der Schiffsjunge, dann jener, der gerade behauptete, die Sternbilder zu kennen. Befehle werden in sich überschlagenden Stimmen erteilt, zerfetzte Segel geviert, Panik, Untergangsstimmung – man möchte meinen, der eine oder die andere hätte bereits mit ihrem Leben abgeschlossen. Wir versuchen das Schlimmste abzuwenden. In diesem Durcheinander ist ein reger Austausch nicht zu unterschätzen.
Das Gespräch mit Dr. Jòzsef Scheinbar führte Bert, der ewige Student im Herbst 2021.